Adolf Dietrich und die Kunst heute

Adolf Dietrich (1877–1957) gehört zu den bedeutendsten Schweizer Malern des 20. Jahrhunderts. Wichtige Ausstellungsinstitutionen wie das Kunsthaus Zürich, das Kunstmuseum Winterthur, das Museum zu Allerheiligen in Schaffhausen und das Kunstmuseum Thurgau würdigten sein Schaffen in Einzelausstellungen. Er verfügte schon zu Lebzeiten über ein breites Netzwerk an Beziehungen mit Künstlern, Museumsleuten und Sammlern.

Dietrichs Bilder vermögen bis heute zu faszinieren, nicht zuletzt Künstlerinnen und Künstler. Dies zeigt sich an Werken, die sich von seiner Person aber auch seinen bildnerischen Strategien anregen liessen.

Dieter Hall zu Besuch in Dietrichs Malstube

Die Stube von Adolf Dietrich bildete das Zentrum seines künstlerischen Schaffens. Auf dem einfachen Holztisch entstanden nicht nur alle seine Bilder, hier begegneten sich auch Besucherinnen und Besucher aus der halben Welt zum munteren Austausch. In etlichen Berichten stellten Künstlerkollegen, Sammler oder Kunstfreunde dabei mit Erstaunen fest, wie Dietrich während dieser lebhaften Gespräche stets fleissig an seinen Bildern weitermalte.

Auch nach dem Tod des Malers blieb die Stube das Zentrum seines Bilderuniversums. Wenngleich die meisten Originale seither einen Platz in Museen und Privatsammlungen gefunden haben, lässt sich hier noch immer die Magie der Dietrichʼschen Bildproduktion am direktesten erfahren.

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Dieter Hall (*1955) hat sich in mehreren Gemälden mit Dietrichs Stube und der Umgebung seines Hauses auseinandergesetzt. Für ihn, aufgewachsen im thurgauischen Littenheid, gehörten Reproduktionen von Werken des Berlinger Malers zu den frühen Begegnungen mit der Kunst. Hier erahnte er bereits als Jugendlicher die Kraft von Bildern, in denen banale Gegenstände oder Landschaften auf unerklärliche Art und Weise zu Verweisen auf andere, geheimnisvolle Welten werden.

2014 wurde Hall vom Kurator Patrik Schedler zum Projekt mit dem Titel “Auf dem See – Am See – Über dem See” in Kreuzlingen, Uttwil und Sommeri eingeladen. Für diese Ausstellungen entstand eine Reihe von Bildern, in denen Hall Motive von Dietrich aufgriff und in seine eigene Bildsprache übersetzte. Diese malerische Auseinandersetzung war Teil einer Strategie zur Erfindung von Heimat, die gleichzeitig durch Erleben und Erinnern bestimmt wird.

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Hall gehört zu jener Künstlergeneration, die um 1980 die gegenständliche Malerei wiederentdeckte. Nachdem Exponenten der Concept- und Minimal Art während Jahrzehnten das Ende der Malerei verkündet hatten, setzte sich eine Gruppe junger Künstlerinnen und Künstler das Ziel, die Malerei als Rechercheinstrument über Bilderwelten und deren Verhältnis zur Wirklichkeit zu rehabilitieren. Wie der bildnerische Ausflug von Dieter Hall in Dietrichs Malstube zeigt, dienten dabei die Werke des Berlinger Künstlers durchaus als Inspiration und vielleicht auch als Ermutigung.

Richard Tisserand schaut über Dietrichs Schultern auf den See

Der Blick auf den Untersee aus unterschiedlichsten Perspektiven gehört zu den Hauptmotiven von Dietrichs Schaffen. Zu jeder Jahreszeit hat er die unvergleichlichen Stimmungen dieser Landschaft festgehalten. Auch in Richard Tisserands (1948-2023) Werk nimmt die Auseinandersetzung mit der Landschaft eine wichtige Stellung ein. Über Jahrzehnte hinweg untersuchte er mit unterschiedlichen Mitteln der Kunst, wie das Erlebnis des Blicks in die Natur bildnerisch umgesetzt werden kann. Seit einigen Jahren setzt er für diese Recherche Hinterglasmalerei ein. Neben Motiven wie dem Rheinfall, den Ostschweizer Alpen oder Szenerien der französischen Atlantikküste malt er auch Landschaften, in denen er einstige Standpunkte seines Kollegen oberhalb von Berlingen oder Steckborn aufsucht, um dort eigene Bilder zu malen. Während Dietrich seine Bilder in der heimischen Stube ab Skizzen und Fotografien gestaltete, stellt Tisserand seine Staffelei – wie die Impressionisten  – in der freien Natur auf und bannt das Gesehene direkt aufs Bild. Die Verwendung von gläsernen Bildträgern erlaubt es ihm, die Landschaft durch das Glas direkt zu betrachten. Im Verlauf des Malprozesses wird diese dann allerdings – Pinselstrich um Pinselstrich – vom entstehenden Bild verdeckt. Die Technik der Hinterglasmalerei führt zudem dazu, dass beim fertigen Bild das gemalte Motiv spiegelverkehrt erscheint.

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Was als nahezu mechanische Wiedergabe der Wirklichkeit beginnt, entwickelt sich so zur Dokumentation eines mehrfach gebrochenen Produktions- und Wahrnehmungsprozesses. Das Abmalen der Wirklichkeit auf die Glasfläche produziert am Ende lediglich eine künstliche Spiegelung eben dieser Wirklichkeit, die mehr mit einer Auseinandersetzung mit der Malerei zu tun hat als mit einem Blick auf den See. In den Hinterglasbildern Tisserands manifestiert sich so modellhaft die Künstlichkeit aller Bilder. Dies verändert auch den Blick auf Dietrichs Bodenseelandschaften. Sie erweisen sich plötzlich nicht mehr nur als sorgfältiges Festhalten von Gesehenem, sondern als bewusste Inszenierungen der Lebenswelt des Künstlers. 

Judit Villiger zerlegt Dietrichs Bilder und setzt sie neu zusammen

Judit Villiger (*1966) setzt sich immer wieder mit der Frage auseinander, warum Bilder so sind, wie sie sind. Um Antworten zu finden, beschäftigt sie sich bildnerisch mit ausgewählten Werken von Kolleginnen und Kollegen. Auch Adolf Dietrichs Gärtchenbilder gehören zu den Arbeiten, die sie für ihre Recherchen einsetzt. So sind im Laufe der Auseinandersetzung mit den Dietrichs Gemälden ganze Serien von Zeichnungen, Scherenschnitten und Computerdrucken entstanden. Darin zerlegt Villiger das bekannte Gartenmotiv in Einzelteile. Sie manipuliert diese und erprobt neue Zusammenstellungen. Als Ausgangspunkt für ihre Recherchen dienen ihr Dietrichs Gemälde ebenso wie seine Fotografien und Zeichnungen.

Die Künstlerin will die dabei entstandenen Arbeiten nicht unbedingt als Einzelwerke verstanden wissen. Eher sollen sie als sichtbar gemachte Denkvorgänge verstanden werden, der ihren fragilen, persönlichen und kreativen Zugriff auf die Dietrich-Motive sichtbar macht. So wie Dietrich den Nachbarsgarten immer und immer wieder malt, so schaut Judit Villiger immer und immer wieder auf die Bilder des Berlinger Malers

Christoph Rütimann geht mit Adolf Dietrich in die Kälte

Christoph Rütimann (*1955) untersucht in seinen Arbeiten die primären Ausdrucks­mittel der Kunst wie Linien oder Töne. 1987 entstand so eine Werkserie, in der er mit einem Zeichengerät eine breite Linie über mehrere Blätter zog. Die Blätter werden einzeln gerahmt und im Ausstellungsraum über Fenster und Türen hinweg wieder zusammengesetzt.

In Museumsausstellungen kombiniert Rütimann die Linienwerke gerne mit Gemälden aus den jeweiligen Sammlungen. Dies führt zu einer Konfrontation von unterschiedlichen Kunstvorstellungen. Im Kunstmuseum Thurgau verband er etwa ausgewählte Gemälde von Dietrich mit der zehnteiligen “Grossen Linie” zu einem neuen Ganzen. Der durch die Linie definierte Horizont lenkte die Aufmerksamkeit auf die konstruktiven Eigenheiten der Bilder Dietrichs. Zudem liess das unmittelbare Neben­einander von reiner Linie und scheinhafter Wirklichkeitsspiegelung grundsätzlich über die Möglichkeiten der Bilder nachdenken.

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Auch Rütimanns Videoarbeiten, – er nennt sie “Handläufe” – sind eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Linie. In diesen Werken erkundet der Künstler mit Kamerafahrten entlang von Handläufen, Schläuchen, Geländern oder Kanten die sichtbare Welt und zeigt sie aus ungewohnten Perspektiven. Das Nebeneinander seines, im Winter am Bodenseeufer aufgenommenen “Handlaufs” und Dietrichs Winterbilder lässt erleben, wie unterschiedlich das an sich gleiche Phänomen in Bilder gefasst werden kann. 

Peter Koehl fasst Dietrichs Motive mit der Drohne

“Die Zeit der Landschaftsmalerei ist vorbei. Wozu noch Landschaften malen, wenn heute jeder Tourist eine Digitalkamera dabeihat?” Diese Behauptung eines Historikers wird durch Peter Koehls (*1954) Videoarbeit “Auf Funkenplatz, sehr schön, Luft hell, Landschaft deutlich…” scheinbar bestärkt. So kann der mit einer Drohne aufgenommene Spaziergang am See gleichsam als digitale Zusammenfassung von Dietrichs Motivwelten verstanden werden.

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Die Arbeit bezieht nicht nur den Titel aus einer Zeichnung von Dietrich, sondern interpretiert auch typische Motive des Künstlers wie den Baum am Ufer oder den erhöhten Blick über den Untersee auf überraschende Art und Weise neu. Das Video nimmt uns mit auf eine Reise durch Dietrichs Landschaften, wobei sich die heutigen technischen Möglichkeiten der Bildproduktion mit Dietrichʼschen Perspektiven zu einer stimmungsvollen Einheit verbinden. In direkter Nachbarschaft zu einem Dietrichbild ist allerdings nicht zu übersehen, dass ein digitales, bewegtes Bild anders wirkt als ein gemaltes Bild – selbst wenn beide dasselbe Motiv darstellen. Das digitale Bild ersetzt so nicht die Malerei, sondern erschafft etwas Neues, Anderes.

Richard Phillips eignet sich Dietrichs Bildwelten an

Adolf Dietrich gilt heute als einer der führenden Schweizer Maler des 20. Jahrhunderts, andererseits wird er seltsamerweise auch als naiver Künstler bezeichnet. Richard Philips hingegen ist ein zeitgenössischer Maler, der mit der Wahl provokativer Themen, einem einzigartigen Stil und der Intensität seiner gigantischen Kompositionen bis an die Grenze des Mediums gegangen ist. Phillips malt Porträts nach Vorlagen aus dem öffentlichen Bilderreservoir, Dietrichs Werk konzentriert sich ganz auf die liebevolle Widerspiegelung einer scheinbar heilen Welt am Bodensee.

Phillips’ erste Begegnung mit Dietrichs Werk ist einer Begebenheit in der Zürcher Kronenhalle zu verdanken, als der mit ihm befreundete Peter Fischli ihn nach einem gemeinsamen Essen in den zweiten Stock entführte, wo neben anderen Werken von modernen Künstlern auch Dietrichs Zeichnung „Zwei Eichhörnchen“ hängt. Phillips war augenblicklich gefesselt von der intensiven Präsenz der Darstellung: „Die emotionale Tiefe und subtile Beobachtungsgabe haben mich sehr berührt.“, erzählte er.

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Phillips entschloss sich, Dietrichs Bilder- und Formensprache quasi von innen her, im Nachmalen, zu erlernen. Im Jahr 2003 entstand so das erste Gemälde nach Dietrich mit dem Titel „Similar to Squirrels. After A. Dietrich“, eine ins grosse Format transformierte Kopie von Dietrichs Gemälde „Zwei Eichhörnchen“ aus dem Jahr 1932. Daraus entwickelte sich eine intensive Auseinandersetzung mit Dietrichs Werken, in deren Verlauf mehrere grossformatige Gemälde entstanden, die 2011 in der Ausstellung “Malerei und Aneignung” im Swiss Institut in New York und im Kunstmuseum Thurgau den Originalen Dietrichs gegenüber gestellt wurden.

Dietrich wie Phillips nutzen dieselben Sujets für ihre Werke: Tiere, Menschen und Landschaften. Gleichzeit überhöhen beide die Gegenständlichkeit stilistisch zu einem Grad von Künstlichkeit, die weit über die Darstellung der Realität hinausgeht. Durch den Aneignungsprozess von Phillips werden beide Werke unter ein neues Licht gestellt. Dies unterstreicht nicht nur die klassische Qualität von Richard Phillips’ Bildern, sondern offenbart auch die Kompromisslosigkeit von Adolf Dietrichs Kompositionen, die seinen Bildern bis heute ihre Attraktivität verleihen.

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